Eine Geschichte in der Geschichte, Phills Tagträumerei, wie alle anderen nie zu Papier gebracht. Es ist Dezember 1898, Noch wartet er in London auf Kiyas Ankunft, und er kann sich nicht vorstellen, wie sich das seltsame Wesen aus dem Urwald in diese graue, kalte, viktorianische Stadt einfügen könnte …
Kiya und Phill und das Rätsel der seltsamen Uhren
Aufgeschrieben und illustriert von Philipp S.
Es dämmerte, und das tiefe Blau des Himmels wich langsam dem Schwarz der Nacht. Phill wartete in der abgelegensten Ecke des Hyde-Parks, dort wo noch keine Laternen leuchteten und das Dickicht der Rhododendron-Büsche nun wie eine bedrohliche Form im Schatten der Bäume lauerte. Der Wind ließ die Blätter rascheln, und seine Hand schloss sich fester um dem Knauf des Spazierstocks, in dem sich die Klinge eines Degens verbarg. Früher hätte er diesen Ort gemieden, doch nun wartete er auf Kiya – und er musste sie beschützen können.
Dann erklang das vereinbarte ‚Piep‘ aus den Ästen über ihm. Er schaute sich noch einmal um und lauschte in die Dämmerung. Niemand war in der Nähe. „Es ist sicher“, rief er nach oben, und mit ausgebreiteten Schwingen glitt sie zu ihm herunter.
„Guten Abend, schöne Fee!“ Er deutete eine Verbeugung an, und sie antwortete mit einem altmodischen Knicks, ehe sie die Hand ausstreckte. Ihre Finger berührten sich, aber er widerstand der Versuchung, sie ihren Arm hinaufgleiten zu lassen und sie zu sich zu ziehen.
Kiya war nicht mehr fast nackt wie damals im Urwald. Sie trug ein einfaches Kleid mit langen Ärmeln, leicht genug, um damit zu fliegen. Es war nicht den Anstandsregeln geschuldet, vermutete er, denn sehen lassen durfte sie sich so ohnehin nicht. Es half nur wenig gegen die Unbillen des englischen Wetters, aber mehr wäre für ihre zarten Flügel nicht zu tragen gewesen. Wo verbrachte sie wohl die Tage, wie schützte sie sich vor Kälte und Regen? Er vermutete, dass sie irgendwo ein Nest in den Bäumen gebaut hatte.
Nun reichte er ihr die Tasche mit den Schuhen, dem Mantel und den anderen Teilen ihrer Tarnung. Kiya ergriff sie und verschwand in den Büschen.
War das wirklich realistisch? Wie lange konnte sich ein Wesen wie Kiya in London verstecken? Wie konnte sie überhaupt überleben, selbst wenn sie nicht erfror? Hier gab es keine wilden Früchte, und außer Ratten und streunenden Katzen keine Tiere zu jagen. Vielleicht würde sie außerhalb leben. Wo waren eigentlich die nächsten Wälder? Phill konnte sich kaum erinnern, wann er, außer für die große Reise, zuletzt die Stadt verlassen hatte.
Möglicherweise war alles ganz anders. Sie hatte gesagt, ist Körper sei ‚selber entworfen‘. Was das bedeuten sollte, vermochte er sich nicht vorzustellen. Vermutlich mussten Zeitreisende Meister der Verkleidung und Tarnung sein, wie sonst konnten sie in immer neuen Welten existieren? Doch wie Kiya, grün und geflügelt und mit großen, schwarzen Augen sich in London verstecken wollte, blieb ein Rätsel. Vielleicht hätte er sie vor dieser Stadt warnen sollen.
Nun trug sie einen weiten Mantel, der ihre Flügel verbarg, eine dunkle Brille, und ihr grünes Gesicht war unter einer Schicht Theaterschminke verborgen. Es sah erstaunlich echt aus, als hätte sie Erfahrung in diesen Dingen.
„Laß uns zuerst etwas essen gehen. Du musst ungeheuer hungrig sein.“
„Ja!“ Sie gab sich keine Mühe, ihre Begeisterung zu verbergen. „Laß uns irgendwo hin gehen, wo es warm ist!“
Schon seit Wochen gab er sein Erspartes für das tägliche Abendessen mit seiner Fee aus. Irgendwann musste er eine andere Möglichkeit finden. Es war undenkbar, sie durch den Hausflur in sein Zimmer bei Madam Winterton zu schmuggeln. Nein, es genügte doch, das Fenster offen zu lassen und mit einer Kerze zu markieren! Warum kam er erst jetzt darauf?
„Aber – lass uns erst ins Museum gehen, so lange sie noch geöffnet haben!“ unterbrach Kiya seine Gedanken. „Ich muss noch mehr Bilder ansehen. In der Bibliothek ist leider wieder kein Fenster offen, ich habe auf dem Weg schon nachgesehen.“
Also machten sie sich wieder auf den Weg zum Trafalgar Square, zur National Gallery. Sie hatten schon viele Abende hier verbracht, immer in der letzten Stunde zwischen Dämmerung und Schließen. Aber Kiya nahm sich Zeit beim Betrachten der Bilder, denn sie suchte nach Hinweisen auf andere Zeitreisende. „Das ist der einfachste Weg“, hatte sie ihm erklärt, „man muss nur auf die Details achten.“ So suchten sie Abteilung um Abteilung nach kleinen Ungereimtheiten in den Gemälden, nach seltsamen Objekten in Stillleben und aus der Zeit gefallenen Details im Hintergrund der Portraits. Besser war wohl nur die Recherche in der Bibliothek, aber auch ungleich anstrengender. Hier flog sie hin, wenn er zu Bett gegangen war und sie ein offenes Fenster gefunden hatte.
Entdeckt hatte sie noch nichts. Einige Male hatte Phill Alarm geschlagen, doch Kiya hatte abgewunken. Die Taschenuhr auf Da Vincis Bild eines Ritters schien ihr völlig unverdächtig. Das müsse so sein, hatte sie gesagt, und wichtiger als Dinge, die da wären, seien oft solche, die fehlten.
Er war erleichtert, als der Aufseher sie endlich herauskomplimentierte, denn nun war auch er wirklich hungrig. Durch dunkle Straße, in denen die Geschäfte nach und nach schlossen, machten sich auf den Weg nach Soho. In diesem eher zweifelhaften Stadtteil gab es Pubs, in denen die Seltsamkeit der Gäste kein Problem darstellte. Phill würde für ihre Sicherheit sorgen, wie in jeder Nacht.
Danach, so hatte er geplant, wollte er Kiya endlich den Crystal Palace zeigen. Zwar war es schade, dass sie ihn so spät nur von außen sehen konnten, aber bei Tageslicht war eine solche Exkursion zu gefährlich. Doch zumindest zu den beeindruckenden Dinosaurier-Skulpturen im Park musste er sie führen. Er war sicher, dass sie davon begeistert sein würde. Vielleicht halfen sie ihm sogar, sie doch noch von einer gemeinsamen Zeitreise zu überzeugen. Oder war sie längst dort – nein, dann! – gewesen und hatte sie mit eigenen Augen gesehen? Vielleicht würde er heute Abend also auch mehr über sie und ihre Reisen erfahren …
Doch zuvor mussten sie etwas Essen und sich aufwärmen. Heute wählten sie ‚The Hangman and the King‘, einen düsteren Pub mit schwachem Licht, aber gutem Essen. Es ging das Gerücht um, dass der Inhaber einst der Koch eines Lords gewesen war, bis nach einem Festmahl seltsame Todesfälle aufgetreten waren. Wahrscheinlich war es ein Reklametrick, denn hier war noch nie jemandem etwas geschehen. Das Essen allerdings war vorzüglich.
„Das mit der Taschenuhr finde ich immer noch seltsam“, stellte Phill schließlich fest.
„Mache dir darüber keine Gedanke“, lautete Kiyas sorglose Antwort. „Taschenuhren hat es eigentlich schon immer gegeben. Sogar König Artus hatte eine. Du hättest sehen sollen, wie stolz er war, als er sie mir gezeigt hat.“
„Dann hast du wohl Recht, aber –“ nun erinnerte er sich, dass ihm noch etwas aufgefallen war. „– aber, warum hat sie dann das Wappen von Cooper & Grey? Ich meine, sie haben ihren Laden in der Fenchurch Street.“
Kiya ließ ihre Gabel fallen und schaute ihn mit großen Augen an. Er hätte schwören können, dass sie trotz der Schminke noch blasser geworden war.
Am nächsten Abend trafen sie sich früher als gewöhnlich. Phill hatte sich mit einer Ausrede einen freien Nachmittag verschafft und zuallererst eine große, dunkle Sonnenbrille für Kiya besorgt.
„Sehe ich gut aus?“ fragte sie.
„Wundervoll, meine schöne Fee.“
„Die Schminke meine ich!“
Er schaute genauer und entdeckte noch eine vergessene Stelle. „Da ist noch etwas Grün, sagte er und deutete auf eine Stelle zwischen Ohr und Wange. Eilig korrigierte Kiya ihr Versehen.
Dann machten sie sich auf den Weg zur Fenchurch Street. Um keine Zeit zu verlieren, nahmen sie den Bus. Die U-Bahn wäre schneller gewesen, doch die dunklen Röhren waren ihr unheimlich, wie wohl jedem geflügelten Wesen außer der Fledermaus.
„Was kann ich für sie tun?“, fragte der Herr hinter der Theke und schob eine Brille mit einem komplizierten Apparat aus Linsen und Einstellrädern nach oben, bis sie endlich in den dichten, fast weißen Haaren halt fand. „Ich bin Jonathan Cooper, zu ihren Diensten.“
„Wir sind auf der Suche nach einer Taschenuhr“, erklärte Phill. „Es soll etwas besonderes sein, ähm, alt und –“
Kiya schnitt ihm das Wort ab. „Nein, eher modern, aber – zeitlos. Darf man das von Uhren eigentlich sagen? Wir haben bei einem ihrer Kunden etwas schönes gesehen, einem Ritter.“
Mr Cooper runzelte die Stirn. „Das ist vage. Meine sie vielleicht den Viscount von – wie hieß er gleich –“
„Nein, wir meinen einen Italiener, aus Mailand, denke ich. Er ist wohl schon älter, und mit Leonardo bekannt, und –“
Der Uhrmacher hob abwehrend die Hand. „Reden sie nicht weiter, ich weiß, wen sie meinen. Oh Gott, ist mir das peinlich. Wir hatten immer gehofft, das es niemand bemerkt.“ Er sah nun fast verängstigt aus, und sie brauchten eine Weile, um ihn wieder zu beruhigen. Sie seien nicht von der Presse, versicherte er ihm, und Kiya erklärte, dass sie Forscher sein, Chronologen, die versuchten, solche Dinge in Ordnung zu bringen.
Als er sich wieder beruhigt hatte, schloss der alte Mann die Ladentür ab und rief dem Lehrling im Hinterzimmer zu, dass er nachhause gehen dürfte. Nachdem auch die Hintertür ins Schloss gefallen war, holte er drei Gläser und eine Flasche Cognac hinter dem Tresen hervor, schenkte ihnen ein und begann, zu erzählen.
„Es ist schon dreißig Jahre her“, berichtete er mit leiser Stimme, als könnten doch noch unerwünschte Ohren lauschen. Das Ticken der zahllosen Uhren übertönte ihn fast. „Ein lieber Freund hatte mir seinen Sohn zur Ausbildung empfohlen, damit er etwas richtiges lernen würde. Nicht nur Bücher und Wissenschaft und solches Zeug. Und am Anfang, in der ersten Woche jedenfalls, ist ja auch alles gutgegangen.“
Der Junge hatte immer schnell und unauffällig gearbeitet, erzählte der Uhrmacher, und so hatte er erst gar nicht bemerkt, dass Herbert, so sein Name, statt nach der nächsten Arbeit zu fragen, sich heimlich mit den Uhren zu beschäftigen begann, von denen er noch Garnichts verstand und die erst viel später auf dem Lehrplan stehen sollten. Er hatte seltsame Mechanismen aus alten Zahnrädern gebastelt, Uhren, die viel zu schnell gingen, und bald schon einen weggeworfenen Wecker repariert, den Mr Cooper längst aufgegeben hatte.
„Ich wollte ihn schon in die Künste einführen, die erst im zweiten Lehrjahr auf dem Plan gestanden hätten, als mir auffiel, dass der Wecker sich nun rückwärts drehte. Nichts als Unfug hatte er im Kopf! Hätte ich da doch nur auf meinen Verstand gehört.“ Mr Cooper nahm einen tiefen Schluck und schenkte allen nach, obwohl die Gläser noch nicht leer waren. „Talent hatte er, aber er hat nichts ernst genommen. Ich dachte, vielleicht bringt ihn ein echtes Problem auf andere Gedanken. Wir – mein Compagnon Theodore Gray lebte da noch – hatten zu dieser Zeit an einer Serie wirklich exklusiver Taschenuhren gearbeitet. Seltene Metalle, feinste Mechanik, und Lager aus Chronidium-Kristallen statt Saphir. Sie sollten unser Gewerbe revolutionieren, aber sie haben nicht funktioniert. Sie liefen eine Stunde, oder zwei, dann wurden sie langsamer und bleiben stehen. Vielleicht ahnen sie, wie verzweifelt wir waren.“
Nichts hatte geholfen, es lag nicht an den Federn und nicht an der Präzision der Zahnräder, jedes Teil lief, für sich, fehlerfrei. Nur zusammen wollten sie nicht arbeiten. Da sie nahe am Aufgeben waren, hatten Cooper und Gray schließlich nicht mehr widersprochen, als der junge Herbert einen Blick auf unglücklichen Uhren werfen wollte. Kaputter konnte er sie schließlich kaum machen. Zu ihrer beider Überraschung kam er schon nach kaum einer Stunde ganz aufgeregt zu ihnen gelaufen. ‚Das müssen sie sich ansehen‘, hatte er gerufen, ‚wie haben sie das nur übersehen können? Man kann sie in beide Richtungen aufziehen.‘ Das sei normal, hatte Cooper entgegnet, müsse die Krone ja hin- und her drehen. Doch er hatte keine Ruhe gegeben, und dann hatte der Junge ihm das Unglaubliche gezeigt.
„Das Geräusch war ein anderes, wenn man in der falschen Richtung begann. Ich weiß nicht, ob sie sich das vorstellen können. Und dann auch das Ticken. Es war nicht richtig, nicht wirklich zu beschreiben. Als ob die Uhr Tack-Tick macht, statt umgekehrt.“
Das war ein überraschender Gedanke. Warum waren Klick-Klack und Klack-Klick nicht dasselbe? Lag es an der Richtung der Zeit und oder an der Richtung des Denkens?
„Herbert muss ziemlich gut gewesen sein in Zeit-Dingen“, stellte Kiya fest und warf Phill bedeutungsvollen Blick zu. Er verstand sofort, denn er hatte den denselben Gedanken.
„Sie lief, ohne langsamer zu werden, aber dann passierte das Unglaubliche. Zu der Zeit, als sie sonst stehengeblieben wäre, da – nun, wie soll ich es sagen –“ Der alte Mann lehrte das Glas und blickte sie hilflos an. „Dann, dann hatten sie plötzlich einen anderen Defekt. Ein – mh – spontanes Existenz-Defizit. Halten sie mich nicht für verrückt, aber –“
„Sie hörten einfach auf, da zu sein“, beendete Phill den Satz, und Kiya nickte ihm zu.
„Ja.“ Der Uhrmacher schien fast in seinem Sessel zu versinken. „Es war furchtbar. Wir konnten sie so unmöglich verkaufen. Bei all der Arbeit! Und als wir sie auseinandernehmen wollten, da hatte Herbert schon an allen herumgespielt, und sie waren alle weg. Erst dachten wir noch, das wäre vielleicht die eleganteste Lösung für diese Peinlichkeit. Aber dann hat meine Frau das Bild in der National Gallery entdeckt.“
„Es hat so lange niemand bemerkt“, versuchte Kiya, ihn zu trösten, „bestimmt wird außer uns niemand mehr darauf achten. Aber sagen sie, Herbert hatte gewiss einen zweiten Vornamen, oder?“
Phill wusste die Antwort, noch ehe der Alte nickte. „George. Herbert George. Wir haben ihn natürlich sofort entlassen. Er, wir, alle Beteiligten haben versprochen, nie etwas von dieser schrecklichen Episode zu erzählen. So war es bis heute. Möchten sie noch etwas?“ Er hielt die Flasche hoch. „Es ist natürlich nichts aus ihm geworden. Schriftsteller, nichts als Flausen.“
Als sie wieder auf der Straße standen, ergriff Kiya seine Hände und schaute ihm tief in die Augen. „Wir müssen auf Zeitreise gehen, Liebster. Wir müssen diese Uhren finden, und zwar so schnell wie möglich!“