Dieser Text entstand für eine spontane Lesung, aus Fragmenten von Iteration II und neuen Ideen. Ob er so ins Buch zurückfließen wird, ist noch ungewiss. Doch er ist interessant geworden, und er ist „richtig“, denn was möglich ist, das wird geschehen …
Unter ihnen erschien der Meeresboden, dunkles Grau im endlosen Schwarz, eine Struktur, die unter ihnen hinweg raste, langsamer wurde und endlich Formen unterscheiden ließ. Aus Streifen wurden Felsblöcke, scharfe Kanten gebrochenen Gesteins, dann runde Formen wie Kissen, die den Boden bedeckten und auseinander hervorgequollen zu sein schienen. Tiefe Spalten zogen sich durch den basaltschwarzen Fels. Auf Kanten und exponierten Brocken ragten gespenstische, weiße Formen ins Wasser, die Phill nicht deuten konnte. Dazwischen, spärlicher, gab es kleine Bäume, verzweigte Fächer und verästelte Spiralen, manche bleich, andere rötlich, gelb oder grün. Korallen? So tief? Und war das ein Fisch? Er konnte nicht mehr erkennen, sie waren noch immer zu schnell. Aber er ahnte, dass Kiya ein besonderes Ziel haben musste, wenn sie so hastig an diesen Wundern vorüber glitt.
Und dann tauchte vor ihnen eine riesige, dunkle Form auf, ein hoher Turm, oder war es der Mast eines versunkenen Schiffes? Aber dafür war es zu dick und zu unregelmäßig, knorrig wie ein verwachsener Baumstamm. Dahinter war etwas, das wie ein Dach aussah. Nein, aufeinandergeschichtet, überhängend. Als es im Lichtschein der Kapsel lag, entpuppte es sich als der seltsamste „Felsen“, den Phill je gesehen hatte. Er schien wie ein seltsamer Pilz auf einem schmalen Fuß zu stehen und immer wieder über sich hinausgewachsen zu sein. Baldachine und Terrassen ragten aus dem Gebilde hervor, Dächer seltsamer Pagoden.
„Sechstausend Fuß Tiefe“, flüsterte Kiya, „in der Mitte des Atlantiks, da wo er sich spreizt, um ein oder zwei Zoll im Jahr.“
Er begriff noch immer nicht, was er da sah. Langsam glitten sie nach oben. Die verwachsene Oberfläche changierte zischen braun und schwarz und schwefeligem Gelb. Aus Spalten, Löchern und kleinen Ästen quollen flimmerndes Wasser und tiefschwarzer Rauch. Um die Öffnungen drängten sich fingerlange Garnelen, bleiche Krabben und riesige, rote Würmer in weißen Röhren. Abseits davon wuchsen Muscheln und blasse Schwämme.
Je weiter sie daran aufstiegen, desto dichter drängte sich das Leben, und umso häufiger brachen flirrende Hitze und Qualm aus den Ritzen. Er schaute nach oben. Langsam wurde der Stamm dünner, nun war er vielleicht eine Armspanne breit, aber ein Ende war noch immer nicht in Sicht.
„Hundertundzehn Fuß, so ungefähr“, beantwortete Kiya die offensichtliche Frage. Dann erreichten sie die Spitze, aus der eine dicke, turbulente Wolke aus hervorbrach wie aus einem Fabrikschornstein. Das musste es sein! Er hatte gedacht, all ihre Technik wäre unsichtbar klein und würde wirken wie Zauberei. Aber diese diente ja der Erzgewinnung.
„Das ist also deine Sammelmaschine.“
Für einen Moment sah sie ihn an, als verstünde sie nicht. Dann versuchte sie wenig erfolgreich, ein Lachen zu unterdrücken.
„Nein, das ist eine Quelle, die man einmal einen Schwarzen Raucher nennen wird. Das Wasser, das hier herausquillt, ist über dreihundert Grad heiß – in Celsius, fast sechshundert in Fahrenheit. Es ist mit gelösten Mineralien gesättigt, und der Rauch besteht aus jenen, die ausfallen, wenn sich das heiße Wasser mit dem kalten mischt. Deswegen sind wir hier.“ Sie lächelte ihn entschuldigend an. „Aber das hätte ich sagen sollen, das kann man wohl verwechseln.“
Sie umrundeten die Spitze, wurden einen Augenblick lang vom dunklen Qualm umhüllt, und sanken dann in langsamen Spiralen wieder herab.
„Du bist der erst Mensch, der so etwas zu sehen bekommt.“
Ihre Formulierung beunruhigte ihn. „Und wieder kann ich niemandem davon erzählen.“
Kiya blickte ihn fragend an. „Wieder?“
„Nachdem ich dich gefunden habe.“ Er schaute in ihre Augen, die noch immer schwarz, groß und geheimnisvoll waren. „Kann ich das zeichnen? Wenn wir dafür Zeit haben?“
„Liebster Phill, wir haben alle Zeit der Welt.“
Erst wusste er in dieser bizarren Fülle nicht, womit er anfangen sollte. Er skizzierte hastig die Form des Turms und sorgfältiger die Strukturen, die vor ihm lagen. Dann entschied er sich für eine Krabbe, die auf der Bauchseite einen dichten, weißen Pelz trug. Kiya steuerte die Kapsel dicht an ihn heran, so dass er einen guten Blick hatte. Es schien, als könnte er sie einfach anfassen, so nah waren sie. Doch dazwischen war die Wand.
Er füllte Seite um Seite, mal nur als Skizze, dann halb ausgearbeitet, bis er etwas anderes entdeckte und nicht mehr wusste, woran er nun weiterarbeiten sollte. ‚Alle Zeit der Welt.‘ Es war wohl wörtlich gemeint. Mit dem Daumen prüfte er die Menge der verbleibenden Seiten. Alle Zeit der Welt, und so wenig Papier!
„Keine Sorge, du kannst so viel haben, wie du möchtest. Schließlich sind wir im Wunderland, oder?“
Erschrocken sah er sie an. Wie meinte sie das?
„Nein, das da draußen ist echt“, versicherte sie ihm. „Und wir sind im Wunderland.“
Oder im Jenseits, fuhr es im durch den Kopf, denn für die Welt war er tot. Er starrte ins dunkle Wasser, und die entsetzlichen Bilder tauchten wieder auf. Der Flammenschein vor dem Fenster, der Schrecken auf den Gesichtern, die Trümmer, die dem abstürzenden Luftschiff vorausfielen. Da waren wieder die Schreie, das Reißen der Hülle, die Explosion, der Ruck, als sie zu stürzen begannen. Nur er war noch am Leben, denn Kiya hatte ihn in ihre Zeitmaschine fallen lassen. Hätte es wirklich keine Möglichkeit gegeben, auch die anderen zu retten?
Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und suchte in der Wunderwelt dort draußen. Sah es ähnlich aus, wo nun die Trümmer der Hercules lagen? Die Leichen aller, die für sein Leben eine Bedeutung gehabt hatten?
„Denke nicht daran, liebster Phill.“ Kiya balancierte über den Rand der kleinen Zeitkapsel und setzte sich direkt vor ihn. Es schien, als säße sie direkt auf der Grenze ihrer Luftblase, halb im Wasser und halb bei ihm. Eine grüne Fee, nur mit Blättern bekleidet, mit großen, schwarzen Augen und Flügeln wie die einer Libelle. „Wir können es nicht ändern.“
„Wirklich nicht, gar nicht?“ Sie hatte ihm so viel über die Natur der Zeit erzählt, dass die Details in seinem Kopf längst wieder miteinander verschwammen. Wenn er an einer Gewissheit halt suchte, entstanden drumherum nur völlig neue Rätsel. „Ich meine, ich bin doch tot, für die anderen, ich kann nicht zurück, es ist doch egal, wenn wir, ich, in dabei in andere Zeit – äh, Zweige? – gelangen.“
Kiya nickte traurig und streckte einen ungreifbaren Arm zu ihm aus. „Ja, wir können jetzt durch die Zeit springen. Nur retten können wir sie nicht. Sie sind gestorben, dieser Zweig der Zeit existiert, er ist ein fester Teil des großen Kristalls. Wir könnten nur einen neuen Zweig hinzufügen, in dem sie leben. Nein, viele, die in denen es uns gelingt und jene, in denen wir scheitern und sie aufs Neue sterben. Mit allen Folgen, mit allem was dann geschehen wird, dem Guten und dem anderen Schrecklichen.“
Ja, so hatte sie es ihm erklärt, in ihren Nächten im Urwald. Manchmal hatte er es zu verstehen geglaubt, und dann hatte es sich ihm wieder entzogen, war zu neuen, verwirrenden Bildern verschwommen. Das Gleichnis mit der Münze war am einleuchtendsten, trotz aller Verwirrung, die es auslöste. Wenn er eine Münze warf, gut genug geschüttelt, dass diese Quanteneffekte wirkten, dann würde er nicht Kopf oder Zahl erhalten, sondern beides. Er würde sich aufspalten in einen Phill, der Kopf bekam und einen mit Zahl. Nein, zahllose Phills sogar, mit Kopf und Zahl, mal mehr links auf dem Tisch oder mehr rechts, und ein paar erstaunte Phills, bei denen die Münze auf der Kante landete. Nur deswegen, so hatte sie ihm erklärt, waren Zeitreisen überhaupt möglich.
Es klang absurd, aber Kiya hatte es ihm erzählt, das völlig unmögliche Mädchen mit Flügeln. Alleine ihre Existenz bewies, dass entweder er oder die Welt verrückt war. Damals, vor einer Woche nur, hatte er sie sogar berühren können, sie war völlig real gewesen. Nun lag ihr echter Körper unter seinen Füßen im Boden, um umgebaut zu werden, für die Reise nach London. Die Reise, die sie nie vollenden würden, weil er dort tot war. Und Kiya war einstweilen nur „virtuell“, noch ein Begriff, den er kaum verstehen konnte.
„Sie leben sogar jetzt noch, in anderen Zweigen der Zeit, ganz ohne unsere Hilfe.“ Sie schaute ihn traurig an, als ob sie jeden seiner Gedanken lesen könnte. Er war sich längst nicht mehr sicher, ob sie es vielleicht tatsächlich vermochte. Doch dann müsste sie wohl lachen über die wirren Bilder und Fragen in seinem Kopf.
Was würde zum Beispiel geschehen, wenn sie der Hercules zu Hilfe eilten? Würde er sich begegnen, zweimal dort sein? Der Gedanke erschien absurd. Wie könnte er danach hier bei Kiya sein, wenn das Flaggschiff der königlichen Luftmarine nicht verbrannte? Nein, die Zeit konnte nicht ungeschehen gemacht werden, das wäre paradox. Sie war keine Linie, sie war ein Baum, verzweigt zu Ästen und Wurzeln, und er wuchs in alle Richtungen, überall und immer. Zeitreisen verhinderten, dass er jemals fertig und erstarrt sein würde.
„Liebster Phill, nun kann ich es dir zeigen. Wir können in die Vergangenheit springen, hier und jetzt, zum Beispiel um fünf Jahre. Und dann nach jetzt zurück. Diese Quellen sind ein ideales Beispiel. Ihre Form ist das Ergebnis einer langen Zufallskette. Wächst ein kleiner Kristall eher nach hier oder dort, dann lenkt er das Wasser in andere Richtungen. Neue Kristalle entstehen an anderen Stellen, verschieben die Ströme. Wir werden jedesmal eine andere Form sehen. Besser kann man dem Kristall der Zeit nicht beim Wachsen zusehen. Möchtest du?“
Phill blickte seine grüne Fee lange an. Vor ein paar Tagen noch hatte sie jeden Sprung durch die Zeit verweigert, den er so gerne versucht hätte. Doch da hatte er „gelebt“, und sie wollte jedes Risiko vermeiden, dass er in einer anderen, „falschen“ Welt ankommen könnte. Nein, falsch: würde! Denn jede Möglichkeit würde einen realen, neuen Zweig des Zeitkristalls bilden. Sie würden in jede mögliche Zukunft, in jede denkbare Vergangenheit gelangen. Sein Gehirn war zu klein für diesen Gedanken.
„Ja, zeige es mir.“ Wenn all das stimmte, gab es irgendwo in einer anderen Verzweigung auch einen Phill, der Nein gesagt hatte.
„Also gut. Schau dir alles hier genau an, merke es dir, oder zeichne. Und sage mir, wann ich starten soll.
Er griff nach Stift und Papier und legte es wieder hin. Begann er, irgendwo „anders“ wirklich zu zeichnen? Stattdessen dreht er sich einmal herum, betrachtete die Szenerie und versuchte, sich so viel wie möglich einzuprägen. „Jetzt“ sagte er, und die Welt draußen verschwand.
Für kaum eine Minute war alles um sie herum schwarz. Nein, es existierte wohl nicht einmal. Und dann bewegte sich wieder etwas, winzige Schwankungen, Staubteilchen, die im Fast-Nichts tanzen. Die Felsen und das Leben aber waren verschwunden.
„Schau nach unten“, beantwortete Kiya die in sein Gesicht geschriebene Frage.
Da war eine Form in der Dunkelheit, schwarzer „Rauch“, der aus einer kaum wahrnehmbaren Kontur quoll. Fünf Meter unter ihnen? Zehn? In dieser Welt, in dieser Dunkelheit verschwammen die Distanzen wie der mineralische „Rauch“, der sie umströmte.
„Willkommen im Jahr 1893“, sagte Kiya. „Du bist nun ein echter Zeitreisender!“ Dann hob die grüne Elfe entschuldigend die nackten Schultern. Ihre Flügel glitzerten vor der Dunkelheit, bestrahlt vom Licht der Zeitkapsel, das aus dem Nirgendwo zu kommen schien. „Ich hatte gedacht, wir sehen mehr. Aber der Schlot muss irgendwie eingestürzt sein.“
Mehr musste sie nicht sagen, denn auch das hatte sie ihm schon erzählt. Auch die Vergangenheit verzweigte sich, und ein Reisender gelangte in jede mögliche Version des Gewesenen. Er, hier, jetzt war in eine unwahrscheinlichere gekommen.
Doch viel brennender überfiel ihn ein anderer Gedanke: 1893! Lange vor der verhängnisvollen Reise! Hier lebte er, hier lebten die anderen, der Professor, Doktor Jameson, das ganze Team des Museums! Konnte man sie nicht warnen? Er öffnete den Mund, um es auszusprechen, sah, wie Kiya fragend die grünen Augenbrauen hob, und erkannte das Offensichtliche.
„Wir sind nicht in – der? Vergangenheit, oder? Nur in einer?“
Sie nickte.
Mehr brauchte es nicht, damit er begriff. Alles würde sich anders entwickeln, vielleicht würden sie den Luftpiraten hier nie begegnen. Vielleicht doch, aber jede Warnung wäre absurd und vergebens, denn sie würde sich auf eine andere Welt beziehen. Sie würden sterben und nicht sterben, und er konnte zu beidem nur neue Varianten hinzufügen, ohne die geschehenen jemals verändern zu können. Kiya nickte mitfühlend.
„Gehen wir zurück?“
„ja“
Wieder schwebten sie für einen langen Moment im Nichts, dann kehrte die Realität zurück. Der Schlot war wieder vorhanden, doch er sah anders aus, war auf andere Weise verwachsen, trug ein neues Muster aus Mineralien und Spalten und Tieren. Wo in der anderen Zeit eine Wand voller Würmer gewesen war – nein, noch immer, nur anderswann – blickte er nun unter einen weit ausragenden Baldachin aus Stein. Wie ein umgekehrter See flimmerte darunter eine Wasseroberfläche, so heiß, dass sie das Licht brach und er für einen Moment sogar sein Spiegelbild darin erkannte. Darin wuchs ein Wald aus Kristallen. Am Rand ergoß sich das überheiße Wasser nach oben wie ein Wasserfall im Zauberland, verwandelte sich im Abkühlen in einen Rauch Mineralien, lagerte sie am Rand des Daches ab und ließ es langsam weiterwachsen.
Auch die Welt über den Wellen hatte sich verändert, das wusste er nun, ohne nachzusehen, ohne Kiya zu fragen. Vielleicht lebte er selber irgendwo da oben, in einem unzerstörten Luftschiff, vielleicht trieb auch seine Leiche irgendwo im Meer. Nein, gewiss! Denn jede Möglichkeit, jede Entscheidung in der Quantenwelt brachte neue Zweige im Baum der Zeit hervor. „Warum tust du überhaupt etwas, wenn alles ohnehin passiert?“ fragte er das grüne Mädchen in der unsichtbaren Wand der Zeitkapsel.
„Weil es möglich ist. Weil ich möglich bin.“
Er war endgültig in Kiyas Welt angekommen, im unendlichen Labyrinth der Zeit. Er war frei.