Diese einige Jahre alte Kurzgeschichte gehört nicht zu „Weißes Rauschen“, aber sie passt ins Themenfeld. Vielleicht hat sie es aber sogar erst ermöglicht, denn diese Idee hatte mich, nach langer Pause, endlich wieder zum Schreiben gebracht.
„Fortsetzung“: Nach der Ernte
Die Straße mit ihren einst prächtigen Gründerzeithäusern lag ruhig und friedlich im Schein der Nachmittagssonne. Die Früchte der Obstbäume in den Vorgärten und auf der Straße waren fast reif. Von den zweihundertfünfzig Jahre alten Fassaden bröckelten Putz und Sandsteinfragmente, hier und dort rankte Efeu nach oben, auf Simsen und in Dachrinnen wuchsen Kräuter und junge Bäume. Vögel zwitscherten, und der sanfte Wind raschelte leise in den Blättern der verlassenen Stadt. Zwischen zwei Autowracks war ein Apfelbaum aus den Pflasterritzen gewachsen, und die Früchte an den schweren, tief hängenden Ästen waren fast reif. Jarys Finger tasteten fast zärtlich über die grüne Haut, fühlten die wächserne Oberfläche, den Schorf überstandener Verletzungen, das feine Muster von Zellen und Spaltöffnungen und den rauen Ansatz des Stiels. Xier[1] fragte sich, wie diese Frucht wohl schmecken würde, ja wie es überhaupt wäre, etwas zu schmecken, hier in der äußeren Welt, mit einem menschlichen Körper.
Xier löste die glänzend schwarzen Finger vom Apfel und sah sich weiter um. Die Pflanzen aus den Beeten hatten den Gehsteig längst überwuchert, Wurzeln und Frost hatten die Straße in einen Fluss aus Asphaltschollen auf einem grünen Strom von Moos und Gras und Blüten verwandelt. Menschen lebten hier schon lange nicht mehr, die Natur holte sich zurück, was die Erbauer der Stadt nicht mehr brauchten.
Es wäre fast idyllisch gewesen, gäbe es nicht überall zu scharfen Kanten gerostetes Metall, Glasscherben und unsichtbare, aber noch immer gefährliche Schadstoffe. Die Vorfahren hatten alles sorglos zurückgelassen, als die Städte nicht mehr benötigt wurden. Jary nahm schwach den Geruch von Öl wahr, das wohl aus einem durchgerosteten Motor gesickert war. Aber das würde sich nun ändern. Am Ende der Straße wartete das silbergrau glitzernde Band der Ernter. Die mikroskopischen Maschinen bedeckten den Boden, zogen sich die Hauswände hinauf und über die Dächer. Für das bloße Auge, sogar für Jarys, wäre aus der Nähe nur ein dünner, silbriger Überzug über dem Boden, über Mauersteinen und Pflanzen zu sehen gewesen. Wäre er aktiv, würde er sich wie Quecksilber fließend bewegen, ganz langsam, fast nicht wahrnehmbar. Er bestand aus winzigsten Maschinen, die gebaut waren, um chemische Elemente zu erkennen, auszuwählen, gegebenenfalls zu verarbeiten, aufzunehmen und weiterzuleiten. Jedes seiner Nanoteile war nur ein einfachster, dummer Automat, aber in der Summe arbeiteten sie zusammen wie Ameisen und ergaben ein fast lebendiges, hocheffizientes Gebilde. Aus der Luft hätte man einen nur wenige Meter schmalen, aber kilometerlangen Streifen gesehen, aus dessen Hinterfront graue Adern wuchsen, die sich zu dicken Strängen vereinigten und gesammelte Metalle oder seltene Elemente in die weit entfernten Speicher der Cluster transportierten. Darüber schwirrte die Luft vor den winzigen Automaten des Immunsystems. Grün war die Stadt auf beiden Seiten des Ernter-Bandes, aber an seiner Vorderseite war sie schmutzig, reich an wertvollen Materialien, dahinter war sie sauber und lebensfreundlich. Nun aber stand das Band still und wartete auf Jarys Signal. Xier selbst wartete auf die Genehmigung der Siedler.
Irgendwo auf der anderen Straßenseite schlug eine Tür. Xier blickte auf und versuchte, das Geräusch zu orten, aber es gelang xiem nicht. Das Haus gegenüber mit den schwarz verkohlten Fensterhöhlen kam kaum in Frage, wahrscheinlich gab es darin nicht einmal mehr Böden, bestimmt aber nichts, was für die Siedler von Interesse sein konnte. Ausgebrannte Ruinen wie diese, von denen es in dieser Straße aber nur wenige gab, zeugten von den turbulenteren Phasen des Übergangs. Aus einem zerbrochenen Fenster ein Stück weiter wehte für einen Augenblick der Rest eines verblassten, einst roten Vorhangs. Vermutlich waren sie also dort am Sammeln, um alles mitzunehmen, was für sie von Interesse war, sei es als Rohstoff oder als Erinnerung.
Für Jary waren die Siedler eine fast fremdartige Lebensform. Dabei waren sie, bis auf wenige biologische Verbesserungen, noch ganz die alten Menschen, die diese Stadt einmal erbaut hatten. Viele von ihnen hatten den Übergang und die Zeiten des Mangels davor noch selber erlebt, und manche mochten sogar hier gewohnt haben. Jary hingegen hatte nur noch wenig mit den Vorfahren gemein. Für xien waren fünf Generation vergangen, und der Teil der Menschheit, der in die digitale Welt ausgewandert war, hatte sich seither rasend verändert. Der bionische Körper, in dem Jary diesen Ausflug in die materielle Welt unternahm, war nur ein vorübergehendes Gefäß. Die alte Stadt war für xien wie ein Museum, eine halbwirkliche Welt mit eingeschränkten Möglichkeiten, immer wieder überraschend, aber seltsam unwirklich. Die Clusterrepubliken waren für Jary die reale Welt.
Ein Schaufenster ein Stück die Straße hinauf weckte Jarys Neugier. Es war, soweit xier es zwischen Stämmen und Blättern erkennen konnte, unzerbrochen, noch immer klar und durchsichtig. Das war ungewöhnlich, denn die meisten Geschäfte waren während des Übergangs geplündert worden.
Xier wollte schon die Straße überqueren, als eine Bewegung xien innehalten ließ. Eine magere, graue Katze schlich langsam suchend an der Bordsteinkante entlang, stoppte kurz an einem Abflussgitter und schnüffelte, drehte die Ohren und wandte sich dann nach links, so dass sie dicht vor Jarys Füßen vorbei lief, ohne xien zu bemerken. Wie fühlte sich eigentlich ein Katzenfell an? Xier wollte das Tier nicht erschrecken, aber zurück im Cluster würde xier es ausprobieren. Irgendwo in der Nähe raschelte etwas zwischen Laub und Unterholz, und nun spähten Katze und Jary gemeinsam, aber vergeblich nach dem Urheber. Die Stille der Stadt, wurde Jary wieder bewusst, war voller Geräusche.
Xier wollte schon die Straße überqueren, als eine Bewegung xien innehalten ließ. Eine graue, magere Katze schlich langsam suchend an der Bordsteinkante entlang, stoppte kurz an einem Abflussgitter und schnüffelte, drehte die Ohren und wandte sich dann nach links, so dass sie dicht vor Jarys Füßen vorbei lief, ohne xien zu bemerken. Wie fühlte sich eigentlich ein Katzenfell an? Xier wollte das Tier nicht erschrecken, aber zurück im Cluster würde xier es ausprobieren. Irgendwo in der Nähe raschelte etwas zwischen Laub und Unterholz, und nun spähten Katze und Jary gemeinsam, aber vergeblich nach dem Urheber. Die Stille der Stadt, wurde Jary wieder bewusst, war voller Geräusche.
Über Asphaltbrocken, zwischen Büschen und Ästen und Resten der vergangenen Zivilisation bahnte Jary sich xiesen Weg zu dem geheimnisvollen Geschäft. An solchen Plätzen hatten die Menschen Handel getrieben, hatten Dinge zur Schau gestellt, welche die einen hatten und die anderen haben wollten, und Preise dafür ausgehandelt, so ähnlich, wie es die Siedler und andere Zweige noch heute manchmal taten. Jary kannte die Geschichte dieser Zivilisationen, und theoretisch verstand xier, wie dieses System funktioniert hatte. Aber trotzdem erstaunte es xien jedes Mal, wenn xier die Reste dieser Zeit erlebte, dass es die Menschen in dieser Welt des Mangels und der andauernden Konkurrenz so weit gebracht hatten. Die Alten hatten es xiem zu erklären versucht, aber wirklich nachvollziehbar war xiem diese seltsame Welt nie geworden. Xiem fehlte jede Erfahrung mit ihren archaischen Beschränkungen.
Jary erreichte das Schaufenster und versuchte, hineinzuspähen, aber die Sonne spiegelte sich in der Scheibe, und Blätter verdeckten den Blick. Beim nächsten Mal würde xier einen größeren Körper wählen, oder eine praktischere Anatomie. Nun versuchte xier, sich an den Ästen nach oben zu ziehen und mit den Füßen halt zu finden. Xier trat auf etwas Metallisches, befürchtete schon, dass der Rost unter xiem nachgeben würde, aber das Rohr hielt. Jary erkannte es als den Rest eines Fahrrades, das hier vor langer Zeit abgestellt worden war.
Xier schirmte mit einem Arm das Licht ab und schaute in den Schatten. Der Blick war klar, die Scheibe bestand aus Diamant, einem einstmals kostspieligen Material, mit dem in der kurzen Phase zwischen der Erfindung seiner Herstellung und seiner Überflüssigkeit nur wertvolle Dinge geschützt worden waren. Xier sah Regale und gläserne Kästen, und Gegenstände darin, die xier nicht genauer erkennen konnte. Was war hier wohl gehandelt worden?
Als Jary herab sprang, um einen Eingang zu suchen, ertönte ein Pfiff vom entfernten Ende der Straße. Xier kletterte wieder hinauf, um einen besseren Blick zu haben, und sah die Gruppe der Siedler an der nächsten Kreuzung stehen. Es waren Männer und Frauen, die kleineren vielleicht Kinder, aber es war nicht zu erkennen, zu welcher Fraktion, welcher Kommune sie gehörten. Alle trugen große, bereits gut gefüllte Rucksäcke voll mit Dingen, die sie als erhaltenswert ansahen. Jary hätte gerne gewusst, was der Suchtrupp eingesammelt hatte, aber trotz aller Kooperation war das Verhältnis zwischen Außenweltlern und Clusterbewohnern zu kompliziert, um so direkte Fragen zu stellen. Gewiss hätte xier eine Sonde zur Beobachtung abkommandieren können, vielleicht aus der Wolke des Immunsystems, aber das gehörte sich nicht.
Vorsichtig auf dem Fahrradrahmen balancierend verschränkte Jary die Arme vor der Brust und deutete, so gut es in dieser Position ging, eine Verbeugung an. Die Siedler erwiderten die Begrüßung. Der Anführer – zumindest hielt xier ihn dafür, denn er schien der älteste zu sein und trug ein Kommunikationsgerät am Ohr – streckte den Arm aus und machte eine Faust, mit dem Daumen nach oben. Die Straße war also freigeben. Jary wiederholte das Signal, und der Siedler nickte. Dann wandte sich die Gruppe ab, und wahrscheinlich nahm niemand von ihnen noch Jarys freundliches Winken wahr.
Dann gab xier den Erntern das Signal, dass sie nun auch diese Straße reinigen konnten. Unsichtbar langsam setze sich das silbrige Band in Bewegung. Jary schätzte die Entfernung ein. Ungefähr zweihundert kPing – etwa eine Stunde in der Zeitrechnung der Siedler – würden xiem bleiben, um diesen Platz zu erkunden.
‚Gal rie Sch cher‘ konnte Jary auf dem bröckeligen Putz über dem Eingang entziffern können, aber es fehlten einige Buchstaben. Galerie? Xier verzichtete auf eine Online-Abfrage. Die Tür zum Laden war aufgebrochen, und die frischen Metallspäne verrieten, dass es erst vor kurzem geschehen war. Natürlich hatten die Siedler auch diesen Platz durchsucht. Aber das machte es xiem einfach, ohne die Hilfe der Ernter hineinzugelangen.
Der Raum war staubig, und frische Fußspuren zeigten, wo die Siedler überall gesucht hatten. Hinten im Laden gab es eine Theke, nicht weit davon eine Sitzecke mit einem kleinen Tisch und drei Stühlen, und an der Wand ein großes Bücherregal. Jary trat in die bestehenden Spuren, um keine eigenen Abdrücke zu hinterlassen. Es war eine Marotte, aber es machte xiem Spaß, einen solchen Raum so unberührt wie möglich zu betrachten. Dafür hatte xier auf dieser Exkursion den falschen Körper gewählt, etwas Fliegendes wäre besser gewesen, aber anderseits erschwerte das die authentische Wahrnehmung der Menschenwelt. Hinten angekommen, setze xier sich vorsichtig auf einen der Stühle, legte sich zurück in das nun leicht klamme Polster und legte die Arme auf die Lehnen. Das Möbel war für größere Körper als xiesen gemacht, aber für ein Kind würde es sich wohl ähnlich angefühlt haben. Xier tastete über den längst rissigen Lack, die Nägel, die den Bezugsstoff hielten, und schließlich den roten Samt, der sich je nach Richtung xieses Fingerstrichs anders anfühlte. Von hier sah xier sich weiter um. Auf dem Tisch stand eine gläserne Schale mit den Resten von etwas, das wohl einmal essbar gewesen war. Auf der Ladentheke war ein rechteckiger, staubfreier Fleck, an dem bis vor kurzem etwas gestanden haben musste, ein Computer wahrscheinlich, das nun die Siedler mitgenommen hatten. Ein Bild hing dahinter an der Wand, abstrakte, leicht verschwommene Formen auf Leinwand, deren ursprüngliche Farben unter dem Schmutz nicht mehr sicher erkennbar waren. Xier erkannte diesen Stil nicht wieder, der Künstler war wohl nicht mehr bekannt geworden, oder nur unbedeutend geblieben.
Dann ging Jary zum Bücherregal und zog wahllos einen der großformatigeren Bände heraus. Xier fand den Titel sofort im gemeinsamen Gedächtnis des Clusters, denn natürlich war er, wie praktisch jedes Buch der letzten Jahrhunderte, in der großen Bibliothek enthalten. Es war der Ausstellungskatalog eines Kunstmuseums, fast hundert Jahre alt. Später würde xier, nur zur Sicherheit, ein Bild des Bücherregals in den Cluster übermitteln, für den unwahrscheinlichen Fall, dass doch etwas noch Unerfasstes dabei sein konnte. An solchen Plätzen, an denen es Künstlerbände in Kleinauflagen geben konnte, war das nicht unmöglich.
Doch nun begann xier zu blättern, denn auch wenn die Daten in bestimmt weit besserer Qualität im Cluster vorhanden waren, war es doch immer ein besonderes Gefühl, ein solches Werk der Vorfahren tatsächlich in den Händen zu halten. Auch das ließ sich zwar perfekt simulieren, aber die Emotionen dabei war nicht dieselben. Manche Seiten hafteten aneinander, alle waren an den Rändern von der Feuchtigkeit wellig geworden. Gerade das machte dieses Exemplar einmalig. Eine Visualisierung im Cluster konnte das nachahmen, mehr nicht. Hier beneidete xier die Siedler, deren limitierte Lebensweise xiem so fremd war: Sie konnten solche Dinge mitnehmen, aufbewahren und immer wieder anfassen. Andererseits, was hätte xier dann damit anfangen sollen?
Das meiste allerdings, das wusste Jary, bewahrte auch bei den Siedlern niemand zuhause auf. Ein paar Erinnerungsstücke hatten die meisten von ihnen, und es gab echte Sammler. Die große Masse der materiellen Kulturgüter lagerte allerdings in den endlosen Kavernen von Salzbergwerken, die mit Hilfe der Technik aus den Cluster zugänglich gehalten wurden. Es waren gigantische, unterirdische Museen, die das Erbe einer Zivilisation enthielten, das für die eine Hälfte ihrer Nachfahren in der materiellen Form uninteressant geworden und für die andere in der schieren Masse zu umfangreich war, um auch nur annähernd gewürdigt zu werden. Auf das meiste davon würde nie wieder der Blick eines humanoiden Auges fallen.
Jary bemerkte, dass xier über diese Gedanken den Inhalt der umgeblätterten Seiten nicht einmal mehr wahrgenommen hatte. Erst ging xier ein paar Blätter zurück, dann gab xier auf. Es gab noch mehr zu sehen, und dieses Buch stand jederzeit zu xieser Verfügung.
Xier stand auf und schob es zurück an seinen Platz im Regal. Dann schaute xier sich weiter im Laden um.
Ein Bild, das schräg gegenüber xieses Sitzplatzes zu sehen war, fing für eine Weile xies Aufmerksamkeit ein. Auf den ersten Blick zeigte das Gemälde ein Gesicht. Aber das, was die Haare zu sein schienen, war eigentlich eine seltsame, dreidimensionale geometrische Figur, die, den Schatten nach zu urteilen, in einer ganz anderen Bildebene lag, als das scheinbare Gesicht darunter. Und dieses war keines, es bestand aus anderen Formen, die nicht zusammen gehörten und doch Gemeinsames andeuteten. Ein menschlicher Betrachter hätte wohl die Augen zusammengekniffen, um die Widersprüche zu einem Portrait verschmelzen zu lassen, aber Jary hatte keine Augen. Xier legte einen Weichzeichnungsfilter über xies Blickfeld, und der Effekt war wohl ähnlich wie der, den xier Künstlerx beabsichtigt hatte. Was xier nun sah, war das Portrait einer jungen Frau mit kunstvoller Frisur. Es erinnerte Jary an eine Welt, die xier einmal erschaffen hatte, mit der dreidimensionalen Projektion einer vierdimensionalen Realität, und ein paar weiteren Tricks. Aber es war nicht das gleiche, das Bild vor xiem funktionierte nur in zwei Dimensionen.
Auch was sonst in den Vitrinen und an den schimmelfleckigen Wänden zu sehen war, fiel wohl unter zeitgenössische Kunst der Übergangsjahre. Daneben gab es einige ältere Stücke, die wohl bis zum Beginn des Jahrhunderts zurückdatierten. Jary entdeckte nichts, was an bekannt gewordene Künstler erinnerte. Somit war diese Galerie eine potenzielle Fundgrube. Es konnten Schätze zu finden sein oder nur Schund, am wahrscheinlichsten aber die Zwischendinge, zum Aufbewahren zu unbedeutend und zum Vergessen zu schade, die einen am längsten beschäftigt hielten. Einiges davon hatten die Siedler mitgenommen, wie staubfreie Flecken in Vitrinen und an Wänden preisgaben. Es waren interessante Werke übrig geblieben, kleine Plastiken, Büsten oder abstrakte Skulpturen, gefertigt aus verschiedenen Materialien. Xier lies xiese Finger über die verschiedenen Oberflächen gleiten, über glattes Metall und rauen Ton. Manche Werke waren, aus Jarys Sicht, belanglos, viele schön, und einige sehr gelungen. Aber es war nichts darunter, was wirklich überraschend gewesen wäre. Das mochte daran liegen, dass Jary die Bibliotheken xies Clusters kannte, oder daran, dass xiem aus dieser kulturellen Vogelperspektive Details und Emotionen entgingen, die die Vorfahren, die Zeitgenossen der Künstler, noch zu schätzen gewusst hätten. Was hatte sich wohl an den nun leeren Stellen befunden? Waren hier die großartigen Werke gewesen, die nun in den Sammlungen und Museen der Siedler verschwanden, und von denen die Clusterbewohner nie erfahren würden?
Die Ahnung, dass sich hier die kulturellen Wege der verschiedenen Nachkommen-Zivilisationen endgültig trennten, war für Jary beunruhigend. Den Wissensschatz der Vorfahren stellten die Cluster auch den Siedlern zur Verfügung, ebenso wie den anderen, kleineren Nachkommens-Kulturen, die freilich nur sehr beschränkte Möglichkeiten hatten, auf diese Daten zuzugreifen. Aber was die Siedler nun ihren Museen einverleibten, war für die Cluster unsichtbar. Nachzufragen, was sich in ihren Rucksäcken verbarg, das verbot Jary die Höflichkeit. Umgekehrt gaben auch die Cluster nicht alle neuen Erkenntnisse weiter, zumindest nicht solche, die vielleicht einmal Angriffsmöglichkeiten und kriegerische Verwendung ermöglichen konnten. Es war traurig, aber wahrscheinlich steckten in den Nachkommen, zumindest in den frühen Generationen, zu viele gefährliche Eigenschaften der Vorfahren. Und dann war da vieles, das für biologische Gehirne zu komplex oder zu uninteressant erscheinen würde. Oder waren das nur Vorurteile? Machten die anderen es ähnlich?
Ein leises Knistern kündigte die Ankunft der Ernter an. Bald würden die Nanomaschinen in die Galerie strömen, und viel würde vom Zauber dieses Ortes nicht mehr übrig bleiben. Plastiken aus Ton würden die Ernte weitgehend schadlos überstehen, nur in farbigen Glasuren konnten wertvolle Metalle enthalten sein. Bronzeskulpturen würden gänzlich verschwinden, mindestens das Kupfer würde völlig aufgelöst werden, und auch das weniger kostbare Zinn würde absorbiert, denn die Siedler benötigten es für ihre grob handwerklich gefertigte Elektronik. Von manchen Materialien würde immerhin die äußere Form erhalten bleiben, ein mikrofeiner Schaum aus den wertloseren Bestandteilen, allem beraubt, das weiter verwertet werden konnte.
Jary wandte sich zum Gehen, nun ohne auf Fußspuren zu achten. Xier wollte schon die Tür öffnen, als xier sich beobachtet fühlte. Irritiert schaute Jary sich um, und dann blickte xier in ein Gesicht, dass xier wohl erst nur aus dem Winkel xies Blickfelds wahrgenommen hatte. Erschrocken wich xier einen Schritt zurück, ehe xier es als ein fotografisches Portrait erkannte.
Das Bild, eine Fotografie hinter einer noch immer fast klaren Kunststoffplatte, war über-lebensgroß, vielleicht doppelt, gewiss aber nicht dreifach vergrößert. Es zeigte einen Mann, der Jary nun mit weit geöffneten Augen anschaute. Seiner Hautfarbe nach stammte er aus dem Süden, vielleicht vom Mittelmeer, eher aber aus Indien. Die Haare waren weiß, sie bildeten einen nicht mehr als drei Finger dicken Flaum um seinen Kopf und einen dünnen Bart, der vielleicht eine Woche alt sein konnte. Sein Bild war scharf, er stand in der Sonne, mit klaren Schatten, und jedes Haar, jedes Detail war fast übernatürlich deutlich zu erkennen. Wie viele Fotografien widersprach es eigentlich der Wahrnehmung biologischer Menschen. Niemals konnten sie so viel gleichzeitig scharf sehen. Sie würden immer nur einen Ausschnitt fokussieren, und ohne dass es ihnen bewusst war, würde der Rest fast so verschwimmen, als wenn sie einer realen Person gegenüber stünden. Jary hingegen konnte das ganze Bild zugleich wahrnehmen, und damit ergab sich die nächste Ebene der Inkonsistenz: Der Hintergrund blieb unscharf, er war, durch die Technik der Fotografie, unwiederbringlich außerhalb ihrer Welt-Ebene. Es war nur zu erahnen, dass da eine Häuserzeile im Hintergrund war, links von ihm im Schatten, dann eine erdfarbene Fassade und schließlich Weiß und Blau und Licht. Mehr war nicht zu erkennen. Schon das war ungewohnt.
Xier trat einen weiteren Schritt zurück, aber mit dem Abstand schrumpfte das Bild nicht auf normale Maße. Es blieb übergroß und überscharf-überunscharf. Xies Wahrnehmung korrigierte den zunehmenden Abstand. Das Bild starrte zurück, mit weiten, erstaunt und freundlich blickenden Augen, als würde es xier selbst genauso überrascht wahrnehmen, wie xier es vor sich sah. ‚Lass mich dir meine Welt zeigen!‘ schien es zu sagen.
Das Knistern der vorrückenden Ernter-Front war nun völlig aus Jarys Bewusstsein verschwunden. Sie schauten sich an, über Zeit und Raum hinweg, und Jary versuchte zu verstehen, was hier gerade geschah.
Xier war eine Welt der Bilder gewohnt, darin aufgewachsen, und Bilder waren die am leichtesten reproduzierbare Wahrnehmung. Fast jedes Bild, das jemals in digitalen Speicher geschrieben worden war, konnte im Cluster jederzeit abgerufen werden. Was war hier anders, was verlieh diesem Moment eine Intensität, die noch kein Bild bei xiem ausgelöst hatte?
Die Flächigkeit war zweifellos ein Teil des Geheimnisses. Denn auch wenn das Bild noch kein Menschenleben alt war, für Jary lag es bereits Generationen zurück. Unzählige zweidimensionale Bilder lagerten in den Archiven, aber für die Mehrzahl der Clusterbewohner waren sie nur noch historisch interessant, so wie es einst die alten Schwarzweißbilder für die Zeitgenossen des Fotografen gewesen waren. Auch Jary ging es so. Xier lebte in drei- und mehrdimensionalen Bilderwelten, in denen die Blicke dies Betrachterx durch Metainformationen gelenkt wurden, so lange xier es zuließ. Den Blick durch Weglassen zu beschränken, galt als Taschenspielertrick und Bevormundung dies Betrachterx.
Vielleicht, so vermutete Jary, fehlten xiem die Sehgewohnheiten der Vorfahren. Die Flachheit eines solchen Bildes konnte ein Schlüsselreiz sein, der andere Verarbeitungsweisen im Gehirn auslösen, und als sie für die reale Welt galten. Die xier nie gelernt hatte.
Noch einmal trat Jary ganz dicht heran. Die Details wurden nicht mehr mehr, so wie sie nicht weniger wurden, als er zurück schritt, bis er an ein Regal stieß. Xier sah mehr von xies Umgebung, aber die Proportionen blieben im Verhältnis. Das Gesicht, in das xier starrte, blieb über-lebensgroß.
Lag hier das Geheimnis? In der Datenflut des Clusters gab es Bilder in beliebiger Menge. Vielleicht war sogar dieses darunter, ohne dass xier es je bemerkt hätte. Aber die Bilder waren in ihrer endlosen Flut beliebig, sie waren klein oder groß, je nach Kontext und Bedarf. Einzeln konnten sie das Blickfeld füllen, wenn die Auflösung ausreichte, oder in der Masse zum Nichts schrumpfen. Man betrachtete sie, wie auch immer man sie gerade brauchte. Diese Fotografie in der äußeren Welt war in ihrer Größe fixiert. Sie war mehr als ein Bild, sie war auch ein eigenständiges Objekt.
Im Cluster würde sie diesen Teil ihrer Realität und Wirkmacht einbüßen, so genau ihre Daten auch erfasst würden. Gewiss konnte xies Software die Verhältnisse zurückrechnen, zumindest so lange xies eigene Größe sinnvoll zu definieren war, doch das wäre nicht mehr dasselbe.
Jary übertrug das Bild in den Clusterspeicher und wollte schon die Metainformationen hinzufügen, doch dann zögerte xier. Es schmerzte fast, dieses Werk so seiner wichtigen Eigenschaften zu berauben, es zu einem von zahllosen zu machen. Die überraschende Alternative wäre, es einfach für sich zu behalten, es nicht zu speichern und nur das Wissen über seine Position im eigenen Datenkern aufzubewahren. Dann bliebe es verschont, unangetastet von Algorithmen, Verfremdungen und Respektlosigkeit. Es wäre fast etwas wie xies ‚Eigentum‘. Das war ein befremdliches Konzept, es erinnerte an die Vorfahren, die ihren Besitz eifersüchtig verteidigten, und an Siedler und anderen Zweige, die diese seltsame Gewohnheit in unterschiedlichem Maße beibehalten hatten.
Nein, so etwas war xiem wesensfremd, es war ein unsinniges, eigennütziges Denken. Jary übertrug die letzten Daten. Dann markierte xier das Bild als für die Ernter gesperrt. Es würde nicht abgebaut werden, es würde hier hängen bleiben, bis die natürlichen Zerfallsprozesse Kunststoff, Verklebung und Farbstoff auflösen würden.
Einige kPing noch starrte xier in das faszinierende, liebenswerte Gesicht, bis das zunehmende Knistern die Ankunft der Ernter unüberhörbar machen. „Lebe wohl“, dachte Jary, dann verließ xier die alte Galerie. Wahrscheinlich würde nie wieder ein bewusstes Wesen einen Blick auf das Bild werfen. Aber Jary würde es niemals vergessen, und vielleicht würde xier eines Tages hierher zurückkehren.