weißes Rauschen: der Beginn …

… vor dem Anfang, oder lange danach? Zeit ist ‚kompliziert‘, wie Kiya sagen würde …

Brasilien, Beginn der Regenzeit 1898

Das grüne Wesen ließ sich vorsichtig auf dem dicken Ast nieder, ohne ihn in Schwingungen zu versetzen. Der Luftzug der gläsernen Flügel brachte die Blätter einer Orchidee zum schwanken, aber die Schlange bemerkte den Ankömmling nicht. Die dünnen Finger senkten sich langsam in den Weg des Reptils, doch es nahm sie nicht wahr, denn ihre Temperatur unterschied sich nicht von der Umgebung. Suchend züngelnd schob es sich über die Rinde, erreichte die Hände und zögerte einen Augenblick, ob es darunter durch oder darüber hinweg kriechen sollte. Es entschied sich für Letzteres. Ganz sanft wurde es hochgehoben und glitt dabei ungestört weiter. Erst als es bemerkte, dass es den Kontakt zum Ast verlor, ringelte es seinen Körper um ein Handgelenk und hielt inne.

Mit großen, schwarzen Augen musterte An Kiya ihren Fund, den graugrün marmorierten Körper, die gekielten, in einer kleinen Spitze endenden Schuppen, die geschlitzten Pupillen in den goldenen Augen. Sie hielt es dicht vor ihr Gesicht, um jedes Detail erkennen und sich einprägen zu können. Die Zunge der Viper berührte ihre Nase, und sie lächelte. Vorsichtig, um das Tier nicht zu erschrecken, löste sie eine Hand aus den Schlingen des Schlangenleibs und strich mit den Fingerspitzen sanft über die schmeichelnd ledrige Reptilienhaut. Sie begutachtete die schuppengliedrigen Lippen, hinter denen sich die tödlichen Zähne verbargen. So wunderschön!

Minutenlang ließ sie den zarten Körper über ihre Finger gleiten, ehe sie ihm den Weg zurück auf die Rinde erlaubte. Erst jetzt zuckte das Tier ganz leicht, und seine Muskeln spannten sich. An Kiya erstarrte in ihrer Bewegung. Vor dem Gift fürchtete sie sich nicht, doch die Zähne könnten beim Versuch, ihre Haut zu durchbohren, abbrechen. Aber die Viper entspannte sich und kroch weiter, auf der Suche nach einem neuen Lauerplatz.

Diese Art war für An Kiya neu, und so dachte sie sich einen Namen dafür aus: Goldäugige Marmor-Kettenviper. Offensichtlich war sie mit der gelben Kettenviper verwandt, und es war die dreißigste Art ihrer Gattung. Es war eine herrliche Weise, diesen Lebensraum kennenzulernen, und sie konnte sich seit Jahren nicht sattsehen!

Dann ließ sie sich rückwärts vom Ast fallen und breitete die Flügel aus, um weiter der Expedition zu folgen, die sich weit unter ihr am Boden so unendlich viel mühsamer durch den dichten Dschungel kämpfte. Weit konnten sie nicht weit gekommen sein.

Sie flog hoch oben im Kronendach, von unten praktisch unsichtbar. Ihre beweglichen Ohren lauschten in den Wald, nach dem bemerkenswerten Lärm, den die europäischen Forscher machten. An Kiya wunderte sich immer wieder, dass sie überhaupt Tiere zu Gesicht bekamen. Dieses Mal waren es die Schläge einer Machete auf Holz, die ihre Position verrieten.

Als An Kiya die Gruppe erreichte, hieb einer der Wissenschaftler noch immer auf den Baumstamm ein, der ihnen den Weg versperrte. Mit Tropenhelm und khakifarbener Uniform entsprach er perfekt dem Klischee des viktorianischen Entdeckers. Hinter ihm wartete ungeduldig der Professor, der selbst hier im brasilianischen Urwald nicht auf seinen Zylinder verzichtete. Er musste vor Hitze fast umkommen, aber ein Gentleman hatte in seinen Augen repräsentative Pflichten. Der Großwildjäger der Expedition, oder was auch immer er war, saß auf einem anderen Stamm, hatte die Flinte neben sich abgestellt und beobachtete amüsiert das Treiben. Der Sumpf und Unterholz hätten ihn wohl kaum gehindert, das Hindernis einfach zu umgehen. Hinter den anderen Wissenschaftlern, vor den Trägern, stand Phill, der Assistent und Zeichner. Seine roten Haare standen, wie fast immer, wild vom Kopf ab, obwohl er sie zu einem kurzen Zopf zu bändigen versuchte. Seine Kleidung wirkte zugleich sorgfältig und verschlissen, aller Anstrengung zum Trotz, ihrer Erosion und Verschmutzung im Urwaldklima Einhalt zu gebieten. Es war offensichtlich, dass er ein Außenseiter in dieser Gruppe war.

Er hatte einen Notizblock in der Hand und schien eine Pflanze zu skizzieren. Vorsichtig holte er eine große Lupe hervor und führte sie ganz langsam an sein Objekt heran. An Kiya fokussierte genauer. Nein, es war ein Insekt, eine Heuschrecke vielleicht. Mehr konnte sie von ihrem Platz in den Bäumen nicht erkennen. Sie würde sich seine Zeichnung genauer ansehen, irgendwann in einer der nächsten Nächte.

Endlich hatte der Jäger den überforderten Doktor doch noch abgelöst, das Hindernis beseitigt, und die Truppe setzte sich wieder in Bewegung. Phill fügte hastig die letzten Striche zu seinem Bild, während die ersten Träger sich an ihm vorbei drängten.

Sie mochte ihn, denn er erinnerte sie sehr an sich selbst, in einer früheren, weit entfernten Existenz.

„Fips!“ rief der Professor gewohnt respektlos, und Phill steckte erschrocken den Block ein, um nach vorne zu eilen.

„Ja, Professor Lawton, ich komme!“

An Kiya flog auf, von allen unbemerkt, und erkundete den Weg vor ihnen auf ihre eigene Weise. Sie sah die Wärme eines Faultiers, das die Karawane wohl dicht passieren musste, doch gewiss, ohne es zu bemerken. Vielleicht würden es einige der Träger entdecken, aber nichts sagen. Eine Gruppe Affen schwang sich durchs Blätterdach, aber sie würden längst weit weg sein, ehe die Wissenschaftler hier vorbei kamen. Insekten summten und zirpten überall im Geäst, und dazwischen nahm sie einen Herzschlag wahr, der von einem großen Tier stammen musste. Sie blickte sich suchend um, sog die Luft ein, um einen Geruch zu erhaschen, und fand den Jaguar.

Der Jäger würde ihn erschießen, wenn er ihn zu Gesicht bekam, daran zweifelte sie nicht. Also flog sie im Sturzflug auf ihn zu, riss die Arme hoch, winkte und stieß spitze Schreie aus, von denen sie hoffte, dass die Forscher sie für die eines Vogels halten würden. Die Raubkatze schreckte auf, doch statt die Flucht zu ergreifen, duckte sie sich zum Sprung. An Kiya wich ihr aus und ergriff den Schwanz des Tieres, das erschrocken aufjaulte. Ein Prankenhieb verfehlte sie, dann flüchtete er in Sicherheit.

Noch einmal stieg An Kiya auf, flog den Wissenschaftlern ein Stück voraus. Hier mussten sie vorbeikommen. Doch von so weit oben konnte sie zu wenig sehen von ihren neuen Fängen und Funden, und von Phill. Also ließ sie sich einfach fallen, um auf einem Ast weiter unten, dichter über dem Weg zu landen. Aber das Holz, brüchiger als sie erwartet hatte, splitterte unter ihrem Aufprall, hätte fast nachgegeben. Ihre Knochen aus Karbonfasern fingen den Stoß dagegen problemlos ab. Der Baum hielt, knapp, und sie kauerte sich unauffällig zusammen. Der Großwildjäger unter ihr blickte auf, starrte ins Grün des Waldes. Doch er konnte sie nicht erkennen.

Sie hatte die Wissenschaftler vor einem Monat entdeckt, und sie war ihnen seither gefolgt. Es war faszinierend, eine Gruppe Menschen zu beobachten, die das gleiche Ziel wie sie verfolgten, doch mit so unterschiedlichen Mitteln. Wo sie ihren fast grenzenlosen Datenspeicher hatte, mussten sie auf Gedächtnis, auf Bücher und Bilder zurückgreifen. Trotzdem gehörten sie zu An Kiyas Geschichte. Es war faszinierend, ihnen nachzuspüren. Sie standen an der Wurzel der Naturerkenntnis, Darwin hatte erst vor dreißig Jahren seine ‚Entstehung der Arten‘ veröffentlicht – ein Augenblick nur in dieser auf Bücher angewiesenen Zeit. Nun forschten sie den Indizien hinterher, katalogisierten Arten und Lebensformen, ganz am Anfang einer neuen Wissenschaft. Sie selbst stand am anderen Ende – zumindest, soweit sie es kannte – und hatte endlich einen unberührten Urwald kennenlernen wollen, der noch nicht völlig von der Zivilisation zerstückelt war.

Dann war da Phill der Sonderling, der sie so immens an ihre eigene Vergangenheit erinnerte. An eine Zeit, die so lange zurücklag und zugleich ferne Zukunft war. Seine Neugier, seine Aufmerksamkeit und seine Abgeschiedenheit waren ihr sympathisch. Und seine roten Haare, die sie selber vor langer Zeit einmal gehabt hatte.

Spät am Abend, als das Lagerfeuer fast erloschen und nur noch von der Nachtwache der Träger sanft am Lodern gehalten war, näherte sich An Kiya wieder dem Lager der Forscher. Zur Sicherheit stieß sie einen kurzen Ultraschallschrei aus, und das Echo bestätigte, dass alle anderen sich zum Schlafen niedergelegt hatten. Der Weg zu den Sammlungen und zu Phills neuen Bildern war frei.

Die Präparate, in Alkohol eingelegt oder als abgezogene Häute notdürftig konserviert, spiegelten die Sammelwut der Doktoren und die Realität des Jägers wieder. Nur selten war eine Spezies dazwischen, die An Kiya nicht schon längst gesehen hatte. Sie waren tot, sie repräsentierten Anatomie, aber nicht mehr das Leben und die Bewegung des Waldes, die sie einst erfüllt hatte. Phills Zeichnungen waren anders. Sie zeigten lebendige Wesen, und wenn nicht, dann erweckte seine Phantasie sie zu realistischem Leben. Es war eine Schande, dass An Kiya sie nur im schwachen Schein von Restlicht und Infrarot sehen konnte. Manchmal nahm sie einen abgeschlossenen Band seiner Skizzenbücher mit, um ihn bei Tageslicht betrachten zu können, und jedes Mal hatte sie die Genauigkeit seiner Beobachtung und die Lebendigkeit der Darstellung begeistert. Nun schaute sie auf das Portrait einer Heuschrecke, bei dessen Anfertigung sie ihn beobachtet hatte. Es war in jenem kleineren, ledergebundenen Büchlein, dass er fast immer bei sich trug und das sie nur selten zu Gesicht bekommen hatte. Es enthielt die besten seiner Werke.

Die Bleistiftzeichnung unterschied sich von den wissenschaftlichen Abbildungen, die anzufertigen eine seiner Aufgaben auf dieser Expedition war. Statt geradlinig und präzise von oben oder von der Seite, hatte er das Tier schräg von vorne dargestellt. Der Kopf war detailliert und erstaunlich realistisch, die großen Augen schienen sie anzusehen, und die Antennen und die Mundwerkzeuge wirkten wie in Bewegung. Doch dahinter wurden die Linien blasser, waren verwischt, und bildeten immer weniger Einzelheiten ab. Ein wenig erinnerte der Effekt an eine Makrofotografie, deren Schärfe sich in der Tiefe verlor – doch solche Fotos konnte er noch nicht gesehen haben. Der Blick des Betrachters blieb aufs Wesentliche gelenkt, und dass die Zeichnung durch den Aufbruch der Forscherkarawane unvollständig geblieben war, fiel kaum ins Gewicht. Lag darin das Geheimnis seines unverwechselbaren Stils? So konnte er trotz Zeitnot zeichnen. Nur für sich selber arbeitete er auf dieses Weise.

An Kiya war überzeugt, dass er sich mit seiner Kunst eines Tages einen Namen machen würde. Doch dass sie trotzdem noch nie von ihm gehört, noch keines seiner Bilder gesehen hatte, wunderte und beunruhigte sie. Sie wollte ihn unbedingt persönlich kennen lernen, und ihm so viele Fragen stellen. Doch ihr grüner, geflügelter Feenkörper, zur Erforschung eines menschenleeren Urwaldes so praktisch, war nun auf einmal ein Hindernis.

Sie blätterte zurück, bewunderte einen Tausendfüßler, der ebenso wie die Heuschrecke so präzise wiedergegeben war, dass sie die Art sofort erkannte, Blüten und Farne, und dann blickte sie auf eine sichtlich hastig angefertigte Skizze. Schräg von unten gesehen war da ein affenartiges Wesen, das mit dünnen Armen und Beinen fast wie ein Mensch auf einem Ast stand und sich gegen den Stamm lehnte. Es hatte Flügel! Phill hatte sie gesehen!

Ihr erster Reflex war, die Seite herauszureißen. Doch das wäre nicht nur dumm und auffällig gewesen, sondern auch unehrenhaft. Und offensichtlich hatte Phill niemanden auf sie aufmerksam gemacht. Weder hatten die Wissenschaftler nach ihr Ausschau gehalten, noch hatte der Jäger sie zu schießen versucht. Nur diese private, bildliche Notiz zeugte davon, dass er etwas entdeckt hatte, das nicht sein konnte.

Sie musste ihn einfach treffen!

Das blieb allerdings ein Problem, denn Phill hielt sich immer ganz nahe an der Expedition auf, meist zwischen den Assistenten und den Trägern, wenn er nicht nach vorne zu den Wissenschaftlern gerufen wurde, und nachts, wenn das Feuer verloschen war, in einem der Gemeinschaftszelte. So blieb An Kiya keine Wahl, als ihn zu sich zu locken. Sie brauchte nur eine passende Gelegenheit.

Es war später Nachmittag, und Phill hatte längst genug von der Arbeit. Sie verbrachten den zweiten Tag an dieser Stelle, und die wissenschaftler hatten ihn überreichlich mit gesammeltem Material versorgt, dessen lebendige Farben und Formen festgehalten werden mussten, ehe sie in Pflanzenpressen oder Alkohol verschwanden. Zuletzt hatte er eine seltsam geformte, nach Verwesung riechende Blüte erst mit Bleistift gezeichnet und dann als Aquarell, und Doktor Jameson bereitete sie nun zum Trocknen vor. „b1287a“, stellte er dabei fest. Phill notierte die Sammlungsnummer auf der Abbildung und legte das Blatt zur Seite. Mit einem Handtuch wischte er sein Gesicht ab, damit kein Schweiß auf Zeichnungen und Proben tropfen konnte. Es war, wie immer, unerträglich heiß.

Eine kleine Orchidee wartete als nächstes Objekt. Also müsste er nun das nächste Papier nehmen und weitermachen. Stattdessen legte er den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zu den Baumkronen. Das seltsame Wesen, das er vor fünf Tagen gesehen hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Es war wieder verschwunden, kaum dass er den Blick abgewandt hatte, um zu Skizzenbuch und Bleistift zu greifen. Grün war es gewesen, und wie ein Affe, nein, fast wie ein Mensch hatte es ausgesehen. Doch er hätte schwören können, dass geflügelt war, wie ein Insekt. So unmöglich war es, dass er nicht gewagt hatte, irgendwem davon zu erzählen, nicht einmal Jameson. Man hätte ihn für verrückt gehalten, oder für fieberkrank. War es überhaupt möglich, dass ein Affe Flügel bekäme? Vielleicht, wenn Darwin recht hatte. Aber Insektenflügel, das war undenkbar. Daheim in England stellte man sich so die Elfen vor, doch das war völlig absurd. Wahrscheinlich hatte ihn nur das Sonnenlicht im Blättermeer getäuscht. Trotzdem hielt er seither Ausschau, wann immer er konnte.

Immerhin gab es noch Dinge zu entdecken, und er war froh, dass er bei dieser Expedition dabei sein durfte. Vielleicht war sie das letzte große Abenteuer. Nicht mehr lange, dann würde jeder Winkel der Welt erreichbar sein, der Amazonaswald kaum weiter entfernt als ein Vorort von London. Oder zumindest als Irland. Die Zeit der Entdecker war vorüber. Schon jetzt hatten sie für die Reise von England bis Manaus nicht mehr als sieben Tage mit dem Turbinendampfer gebraucht. Die neuen, fantastischen Möglichkeiten begeisterten ihn, aber ein wenig bedauerte er auch den Verlust des Zauberhaften. Bald würde es nichts mehr zu entdecken geben, doch wenn er Glück hatte, würde er noch den grünen Affen finden und in die Geschichte der Zoologie eingehen!

„Alles in Ordnung, Fips?“ fragte Jameson. Der war der Einzige, dem Phill diese Anrede nicht im Stillen übel nahm.

Er schreckte auf. „Ja, ja, alles ist gut. Ich mache schon weiter, Herr Doktor.“

„Du scheinst eher eine Pause zu brauchen, sonst verwechselst du noch Flederlinge mit Schmettermäusen.“ Er lachte schallend. „Nicht auszudenken, was du dann pinseln würdest. Halbe Stunde, gut? Und vergiss nicht, genug zu trinken.“

„Danke!“ Phill sprang auf und ging zum Schlafzelt, doch nur um die Tasche mit seinem privaten Skizzenbuch zu holen. Er wählte einen der frischen Trampelpfade, die vom Lager in die Tiefe des Waldes führten und hoffte, dass er einen Platz finden würde, an dem er für eine kleine
Weile alleine sein konnte. Eine große Wurzel schien passend, und er wollte sich setzen, als er ein Rascheln hinter sich hörte. Erschrocken drehte er sich um, aber da war nichts, zumindest kein großes Tier. Etwas glitzerte neben einem Baumstamm, und für einen Augenblick schien etwas dahinter hervorzuschauen, was wie ein großer Flügel aussah! Vorsichtig verließ er den Pfad, und so leise, wie er es in Laub und Unterholz nur konnte, näherte er sich der Stelle. Doch dort war nichts. Enttäuscht wollte er zurückgehen, als er über sich etwas hörte. Etwas Großes hatte sich zwischen den Blättern bewegt! Er starrte ins Geäst, und da war wieder etwas, nicht genau zu erkennen, aber er war sich sicher, dass es grün war!

Phill folgte der Erscheinung, die ihm immer nur ein Stück voraus zu sein schien. Unsicher blickte er hinter sich, um die Richtung zum Lager nicht zu verlieren. Die Zelte waren noch zu erkennen. Aber wo war das Wesen jetzt, hatte er es aus den Augen verloren? Diesmal bewegte sich wieder etwas am Boden, und ja, es war wirklich grün! Sein Herz klopfte vor Aufregung, während er der seltsamen Erscheinung folgte. Es war gefährlich, allein im Wald, bald außer Sichtweite des Lagers, aber es war seine Chance, eine Entdeckung zu machen! Wieder raschelte es vor ihm, und dann war es still.

Nur die endlos summenden Zikaden waren noch zu hören, aber nichts bewegte sich mehr vor ihm. Zögerlich ging er weiter, schaute hinter den nächsten Baum, und den nächsten. Auch über ihm rührte sich nichts im Geäst.

„Piep!“

Erschrocken fuhr Phill herum.

Auf einem umgestürzten Baumstamm saß eine grüne Frau mit großen, völlig schwarzen Augen. Sie war klein, mochte ihm wohl kaum bis zur Brust reichen, dünn und seltsam schön, und bis auf einen Lendenschurz aus Blättern und Ranken gänzlich nackt. Ihre langen Haare hatten einen nur wenig dunkleren Laubton als die Haut.

‚Indianer!‘, schoss es Phill durch den Kopf. Er schaute sich ängstlich um, ob er längst von ihren Begleitern umringt war, die sicher ihre Blasrohre auf ihn gerichtet hätten. Doch er konnte niemanden entdecken. Versteckte ihre grüne Bemalung sie zu gut?

Die Frau – oder das Mädchen? – schüttelte amüsiert den Kopf, und sie breitete ihre Flügel aus, glasklare Schwingen wie die einer Libelle. Sie hob einen Zeigefinger vor den Mund und lächelte.

„Hallo Phill. Ich bin An Kiya.“ Ihre Stimme war leise und freundlich.

Es musste doch ein Fieber sein, das ihn halluzinieren ließ, oder ein Traum. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, und sie saß noch nimmer vor ihm: eine Elfe! Es gab keine Elfen! Sollte er weglaufen, die anderen herbeirufen?

„Falls es dich beruhigt: ich bin nicht übernatürlich. Kein bisschen.“

„Ich bin Philipp“, stellte er überflüssigerweise fest.

„Wir sollten ein Stück weiter gehen, damit deine Begleiter uns nicht bemerken. Ich weiß einen schönen Platz am Fluss, es ist nicht weit.“ Ohne auf seine Antwort zu warten sprang sie auf und ging voran ins Unterholz. Ein Sonnenstrahl glitzerte auf ihren unmöglichen Flügeln. Phill folgte hastig, nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass ihm anderer Expeditionsteilnehmer gefolgt war. Jeder von ihnen hätte sofort versucht, die Elfe, Fee oder was auch immer sie war, zu erlegen!

Tatsächlich gelangten sie nach kurzer Zeit ans Ufer eines kleinen Urwaldflusses. Auf einer schmalen Sandbank lag ein Baumstamm. Das grüne Wesen sprang leichtfüßig darüber hinweg, ließ sich in den Sand gleiten und lehnte sich gegen das Holz. Phill hielt nach Krokodilen Ausschau, ehe er den Stamm umrundete und sich neben sie setzte.

„Wo kommt ihr her“, wollte sie wissen, ehe er passende Worte finden konnte.

„Aus England. Das -“ … ist auf der anderen Seite des Ozeans, hätte er beinahe erklärt, doch das war offensichtlich überflüssig, denn sie sprach perfektes Englisch. „Aus London, vom Natural History Museum und der Royal Society.“

Sie hob anerkennend ihre schmalen, grünen Augenbrauen. „Gute Adressen. Was macht ihr hier?“

Phill war zwar noch nie einer Elfe begegnet, aber ein Zauberwesen, das ein naturkundliches Museum für eine gute Adresse hielt, schien ihm jenseits aller Glaubwürdigkeit zu liegen. „Was bist du?“ fragte er und bereute schon seine aufdringliche Direktheit.

Doch sie schien ihm nicht böse zu sein. „Du stellst gute Fragen, und komplizierte“, antwortete sie mit einem Lächeln, das eine Spur von Hilflosigkeit zu überspielen schien. Hätte er doch nur den Ausdruck ihrer Augen erkennen können, doch im unergründlichen Schwarz konnte er nicht einmal die Richtung ihres Blickes erahnen.

„Ich bin eine Forscherin“, erklärte sie nach einer Pause, „und ich finde, wenn man einen Dschungel erkunden will, ist es ungeheuer praktisch, unauffällig klein und grün zu sein und fliegen zu können.“ Sie hob wie entschuldigend die Schultern. „Aber es sieht gut aus, oder?“

Er ignorierte ihre Frage. Wie konnte man schließlich einer fast nackten Frau – falls dies überhaupt die richtige Kategorie für dieses Wesen war – sagen, dass sie gut aussähe? Stattdessen versuchte er, sie nicht anzusehen, zumindest nicht unterhalb des Halses. Zugleich aber wollte er sie nicht aus den Augen lassen, als könne sie sich in Luft auflösen, wenn er auch nur blinzelte.

„Du bist also keine – Elfe, keine Fairy, Waldgeist, oder wie immer man es nennt?“ Die Frage kam ihm albern vor, kaum dass er sie ausgesprochen hatte.

Sie schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Lachen. „Nein, nichts dergleichen. Keine Zauberei. Kompliziert.“

Eine Flut von Ideen aus den Romanen, die er in den letzten Jahren gelesen hatte, stürzte über ihn herein. Gab es wirklich andere Welten, wie die Schriftsteller sie beschrieben hatten? Der „Krieg der Welten“ von H. G. Wells war ihm in frischer Erinnerung, als böse Invasorin aber konnte er sich das grüne Mädchen kaum vorstellen.

„Dann kommst du von einem anderen Planeten? Vom Mars?“

Ihre unglaublichen Augen weiteten sich für einen Moment der Überraschung. Oder war sie amüsiert? Doch sie schüttelte wieder den Kopf, wurde wieder zur rätselhaften Sphinx. „Nein. Aber ich komme tatsächlich aus einer anderen Welt. Von der Erde, aber aus einer anderen – Zeit –“

Phill ließ sie nicht ausreden. „Du kommst aus der Zukunft? Es gibt also wirklich Zeitmaschinen?“ Wieder war es ein Roman von Wells, der ihm die letzte denkbare Alternative lieferte. Nun war sie wirklich verblüfft, und es dauerte eine Weile, ehe sie eine Antwort fand.

„Ja, man kann durch die Zeit reisen“, bestätigte sie endlich. Sie schaute Phill an, als ob nun sie es wäre, die über ihn zu rätseln begann. „Aber es ist anders, als du es dir wahrscheinlich vorstellst. Ich komme aus – einer – Zukunft, aber nicht aus deiner. Ich komme aus einer anderen – Zeit.“ Dabei kippte ihre Stimme kaum hörbar, und Phill glaubte, Trauer oder gar Verzweiflung in ihren Worten zu erkennen. Doch was sie damit meinte, verstand er nicht.

„Ich hatte gedacht, Zeitreisen wäre unmöglich.“

„Warum?“ Ihre Stimme festigte sich wieder. „Weil noch keine Zeitmaschine erfunden worden ist?“

„Nein, natürlich nicht.“ Er kam sich vor, als hätte er etwas Dummes gesagt. Wie konnte er mit einer Zeitreisenden darüber diskutieren? Wenn sie denn wirklich aus einer anderen Zeit kam, was auch immer das bedeutete – zumindest hatte sie das behauptet, und sie war grün. Er nahm allen Mut zusammen. „Weil es absurd ist. Damit man in die Vergangenheit reisen kann, muss sie noch existieren, und um in die Zukunft zu fahren, muss sie schon da sein. Aber dann ist ja alles bereits geschehen, auch das Zukünftige.“ Er beobachtete ihre Reaktion.

„Ja, so könnte es sein“, antwortete sie nur.

Phill hatte Widerspruch erwartet, eine Erklärung, oder wenigstens Lachen über seine Naivität. Es konnte so sein? Aber das wäre widersinnig! „Aber wenn sich nichts ändert, wenn alles schon von Anfang an da ist, dann wäre Zeit ja nicht einmal mehr Zeit!“

„Das kommt darauf an, was du darunter verstehst. Für uns verändern sich die Dinge, weil – weil wir uns durch die Zeit bewegen. Wir nehmen immer nur den Augenblick wahr, und wir erinnern uns. Woher willst du da wissen, wo Vergangenheit und Zukunft sind?“

„Was ist dann Zeit?“ fragte er verwirrt.

„Ich weiß es nicht.“ Sie hob die Schultern und lächelte entschuldigend. „Das klingt jetzt wohl albern für ein grünes Mädchen, das behauptet, eine Zeitreisende zu sein. Aber in aller Zukunft, die ich kenne, hat man es nicht wirklich herausgefunden. Es gibt Hypothesen darüber, warum sie überhaupt eine Richtung hat, aber keine davon ist sicher. Ein sehr weiser Mann wird in ein paar Jahren sagen ‚Zeit ist, was man auf der Uhr abliest.‘“

„Das klingt nicht sehr weise“, widersprach Phill enttäuscht.

„Na ja, es ist nicht das, wofür er berühmt werden wird. Aber es wird für lange Zeit das Sicherste sein, was man über Zeit aussagen kann. Man wird einiges mehr darüber lernen, wie sie strukturiert ist, aber nicht darüber, warum sie da ist oder weshalb sie vergeht. Aber er wird eine Menge dazu beitragen. Zum Beispiel findet er heraus, dass die Zeit bei den Füßen langsamer vergeht als am Kopf. Außer man macht Handstand.“ Mit den Zehen schnickte sie Sand nach oben. „Siehst du’s?“ fragte sie und lachte. „Aber in hundert Jahren wird man Uhren bauen, mit denen man diesen Unterschied messen kann. Man kann ihn beschreiben, vorhersagen, aber verstehen, was Zeit ist, wird man auch dann noch nicht. Es wird nur immer verwirrender werden.“

Phill war ratlos. Vor ihm saß eine Reisende aus der Zukunft, die behauptete, das Wesen der Zeit nicht zu kennen, und die das, was er für absurd befunden hatte, für möglich hielt. Waren also nur seine Annahmen unsinnig? Er versuchte, sich vorzustellen, wie er durch die Zeit fiel, einem schon immer existierenden, unausweichlichen Weg folgend. Aber was war mit den vergangenen Momenten? Er konnte dann ja nicht aus ihnen verschwinden. Es war zu verwirrend und zu abstrakt, und er wagte nicht, weiter zu fragen. Er konnte sich nur blamieren, wenn er sich auf dieses Feld begab.

„Dann werden Menschen also einmal aussehen wie du?“ fragte er, um das Thema zu wechseln.

„Nein. Kaum. Nur in manchen Zukünften.“ Sie seufzte kaum wahrnehmbar. „Jetzt klinge ich noch seltsamer, als wenn ich eine Fee wäre, oder?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe noch nie mit einer gesprochen. Hast du?“

Sie schüttelte den Kopf und lachte.

„Und ihr seht alle so aus?“ Aus irgendeinem Grund hoffte er, dass sie es gewesen war, die er vor ein paar Tagen gesehen hatte?

„Wir?“ Sie sah ihn an, als ob sie seine Frage nicht verstanden hätte.

„Deine Begleiter, meine ich.“

„Ich bin alleine hier.“ Die Zeitreisende senkte den Kopf und blickte über das Wasser. „Nur ich sehe so aus. Selbstentworfen.“

Hatte sie ihn falsch verstanden? „Nein, nicht jetzt, ich meine –“ Er stockte. Dass eine Frau, ein Mädchen, so schutzlos im Urwald unterwegs war, das war unvorstellbar. „Ganz alleine? Niemand passt auf dich auf?“

Ihr Lachen hatte einen seltsamen Unterton. „Ich kann schon auf mich aufpassen.“ Sie sah ihn nicht an.

„Aber es gibt hier doch wilde Tiere! Sogar Jaguare!“

„Ich weiß. Vor ein paar Tagen habe ich mit einem gespielt.“

Phill sah sie ungläubig an. „Giftschlangen, Skorpione, und alles mögliche. Niemand geht alleine in diesen Wald.“ Machte sie sich über ihn lustig? „Was machst du, wenn dir hier etwas passiert? Es gibt sogar Indianer!“

Einige Atemzüge lang hörte er nur das leise Rauschen des Flüsschens und den monotonen Gesang der Zikaden. Dann wandte sie sich wieder zu ihm. „Ich bin robuster, als ich aussehe – und wehrhafter.“ Ihre unergründlichen Augen glänzten intensiver als zuvor. „Um mich musst du dir keine Sorgen machen.“

Wie konnte sie nur so unglaublich leichtsinnig sein? Ihm fiel die größte Gefahr ein: „Wilcox würde sofort auf dich schießen. Nimm dich vor dem Jäger in Acht.“

„Ja, das glaube ich dir. Ich werde aufpassen, versprochen!“ Sie lächelte, und Phill war sich nicht sicher, ob sie seine Warnung wirklich ernst nahm. Der Gedanke, das grüne Mädchen könnte in der Sammlung des Museums enden, entsetzte ihn.

Plötzlich hob An Kiya aufmerksam den Kopf, und ihre großen Tierohren bewegten sich. „Wenn man vom Teufel spricht!“ flüsterte sie. „Ich finde dich wieder!“ Dann sprang sie hoch, ihre Flügel begannen zu schwirren, und ohne dass ihre Füße noch einmal den Boden berührt hätten, flog sie davon. Phill, der nichts außer den Geräuschen das Waldes und des Wassers hören konnte, starrte ihr hinterher, doch sie verlor sich sofort im Grün das Laubs auf der anderen Seite des Flüsschens.

Er verwischte einen Fußabdruck, den sie im feuchten Sand hinterlassen hatte, damit niemand ihn entdeckte, und damit verschwand der Beweis, dass sie mehr gewesen war als einer seiner Tagträume. Sie konnte nicht real sein! Er war alleine, wie immer. Dann hörte er endlich Stimmen und Schritte. Ausgerechnet Professor Lawton und Wilcox!

„Fips, bist du hier?“

Endlich hatte er etwas entdeckt, das alle Funde der Wissenschaftler in den Schatten stellte, und er konnte nichts verraten.

 

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