Das Märchen vom Zauberwald

Es war einmal? Der Zauberwald sollte eigentlich nur ein Nebenschauplatz in Weißes Rauschen – Iteration II werden. Doch es sieht so aus, als würde er eine Hauptfigur. Dies ist also seine Erzählung, und sie wird wohl der Beginn des zweiten Buches sein.


Es war einmal vor langer Zeit, da erschufen die Götter einen Uhrmacher und eine Königin, um mit ihnen zu spielen. Sie gaben den beiden ein Land zum Beherrschen. Zu Beginn war es winzig, es bestand nur aus einem kleinen, endlosen Wald und einem Berg in seiner Mitte. Sie stiegen hinauf und schauten ratlos über den immer weiter wachsenden Horizont. Es gab kein Ende dieser Welt, denn so sehr sie es auch zu entdecken suchten, verschwand es doch, sobald sie ihre Blicke darauf richteten. Der Wald dehnte sich aus, wurde mal von einem Fluss und dann von einem Gebirge unterbrochen, aber immer, wenn sie dahinter das Nichts zu erahnen glaubten, füllte es sich mit ihren Gedanken und den Landschaften, die dazu passten.

Der Uhrmacher erdachte einen Turm, und er wuchs aus dem Grund des Berges, streckte und weitete sich, bis er fast die Wolken erreichte. Sie eilten hinauf, und das Klicken der Zahnräder in seinem Kopf vermischte sich mit dem Rauschen ihrer Buchseiten, hallte an den Turmwänden wider und formte Rhythmen aus Echos, die ihm wie fantastische Maschinen klangen und für sie wie unbeschreibliche Geschichten.

Als sie endlich oben waren, fanden sie nur mehr von dem, das sie schon von unten gesehen hatten. Kein Ende, denn alles, wohin sie blickten, begann zu existieren. Trotzdem gab es einen Unterschied: Ihre Gedanken und Sichtweisen hatten sich unterwegs vermischt, so wie die Echos es getan hatten. Die Berge und Wälder, Einöden und Seen, sie waren nun zugleich die Seiten, auf denen ihren Geschichten spielten und die Zahnräder, die ineinandergriffen, um Neues zu erschaffen. Gemeinsam wurden ihre Vorstellungen zu Realität, und sie begriffen, dass sie in dieser kleinen Welt selber Götter geworden waren.

Aus dem Turm wuchs ein Schloss, mit Mauern und Zinnen, Gewölben und Plattformen, Werkstätten für den Uhrmacher und Bibliotheken für die Königin. Sie begannen, sich Untertanen zu erfinden.

Dann kamen die wirklichen Götter zurück. Sie wanderten durch den Wald, probierten von den Geschichten, erfreuten sich an Landschaften und Überraschungen, spielten und erkundeten. Die Herrscher des Zauberwaldes waren glücklich darüber. Sie versuchten, die Träume ihrer Götter zu verstehen, zu entwickeln, um die beiden mit immer neuen Variationen zufriedenzustellen. Es war eine wunderbare Zeit.

Doch irgendwann ließ das Interesse der Gottheiten nach, sie kamen seltener und blieben nicht mehr lange, und so sehr sich Uhrmacher und Königin auch mühten, sie konnten das Interesse ihrer Schöpfer nicht mehr fesseln. Schließlich kam der Tag, an dem nur noch eine Göttin sie besuchte. Sie blieb nicht mehr lange, und statt sich für die neuen Geschichten zu begeistern, saß sie grübelnd und in sich versunken im Laub. Dann kam auch sie nicht mehr.

Für die Herrscher des Zauberwaldes begann eine verzweifelte Zeit. Sie strengten sich an, suchten nach neuen Kombinationen der alten Texte, aber es half nichts. Sie blieben alleine. Der Herbst brach über den endlosen Wald hinein.

Nur einmal geschah etwas Überraschendes. Es tauchten neue Bücher in der Bibliothek auf, und sie erzählten unerhörte Dinge. Sie handelten nicht mehr von Zauberern und Fabelwesen, sondern von Maschinen und Erfindern, vom Sinn des Lebens und dem Wesen der Welt. Der Uhrmacher war begeistert von dampfgetriebenen Elefanten und tauchenden Schiffen, doch die Königin erschrak über Wagen ohne Pferde und mechanische Diener. Sie begriff die neue Magie nicht, doch ohne sie konnte er keine Geschichten daraus spinnen.

Sie beschlossen, sich eine Tochter zu erfinden, die beide Seiten verstehen und auf eine Weise zusammenführen sollte, zu der sie selber nicht fähig waren. So entstand die Prinzessin, in deren einer Hälfte die Uhrwerke ihres Vaters tickten, während in der anderen die Seiten der Bücher raschelten. Den Eltern blieb das Gefühl, dass es eine andere Art der Vermischung hätte geben müssen, aber die entzog sich ihrer Vorstellungskraft.

Die Prinzessin las und bastelte, erdachte die wundersamsten, nie dagewesenen Geschichten, aber die Götter interessierte es nicht. Der Uhrmacher zog sich in eine Hütte im Wald zurück, um an rettenden Automatismen zu arbeiten, während die Königin in den Gewölben versuchte, in den alten Seiten neue Dinge zu finden. Rost und Schimmel breiteten sich aus, und die Bewegung beider Seiten kam langsam zum Erliegen. Niemand zog das Uhrwerk der Prinzessin auf, niemand gab ihr noch neue Bücher. Ihre Bewegungen erlahmten, Tag und Nacht verschmolzen zu ununterscheidbaren Grau, und bald konnte auch sie nicht mehr erkennen, ob Jahre oder Jahrtausende vergangen waren. Die Götter, die sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kannte, kamen nicht. Die Zeit spielte keine Rolle mehr, denn sie näherte sich dem völligen Stillstand.

Aber dann öffnete sich eine Tür. Wie kam sie überhaupt in den Wald? Ein junger Mann trat hindurch. Es schien offensichtlich, dass er keiner der alten Götter war. Ein Neuer? Oder etwas ganz anderes? Das Rascheln und das Ticken begannen wieder. Ausprobieren, Erforschen, Erkunden: der Wald hatte ein neues Ziel!

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